Magazin

NEO-Porträt: Justus Thorau

Im Dienst der Partitur Justus Thorau ist ab kommender Spielzeit kommissarischer Generalmusikdirektor der Stadt Aachen. Der Dirigent und begeisterte Sportler sieht seiner Aufgabe mit Gelassenheit entgegen.

VON SEBASTIAN DREHER

Offenes Hemd, schicker Anzug, sportliche Figur, leichte Bartstoppeln – man könnte Justus Thorau für einen Investmentbanker halten, für einen Anwalt oder einen Architekten. An den Beruf des Generalmusikdirektors, kurz GMD, denkt man zunächst mal nicht. Und doch wird Justus genau das sein – zumindest für die kommende Spielzeit am Theater Aachen. Dort wird der 30-Jährige kommissarisch für ein Jahr in die Fußstapfen seines Vorgängers Kazem Abdullah treten. Der US-Amerikaner, der 2012 die Nachfolge von Marcus Bosch angetreten hat, wird Aachen im Juli 2017 verlassen. »Das ist eine große Chance für mich«, sagt Justus. »Ich freue mich drauf, auch wenn es heißt, mehr Verantwortung zu tragen.« Denn ein GMD muss alles im Blick haben, administrative Aufgaben übernehmen, das Programm planen, Solisten einladen und natürlich seine musikalische Abteilung bis ins Detail kennen. »Ich weiß, was auf mich zukommt«, meint er selbstbewusst.

J.-Thorau-(F.Behringer)

»Beim Sport ist es bei mir wie bei der Musik, Ich habe immer wieder Spass, neue Sachen auszuprobieren. Innerhalb weniger Tage ­vertiefe ich mich komplett in die­ ­jeweilige ­Sportart oder Partitur.«

»Irgendwas mit Musik«
Justus wird 1986 in Berlin geboren. Die ganze Familie ist sehr musikalisch, zur Geige kommt er durch seinen Onkel – da ist Justus gerade mal dreieinhalb. Von seinem Opa bekommt er den ersten Klavierunterricht. Seine Mutter ist Lehrerin, singt nebenbei im Philharmonischen Chor Berlin. »Als sie mit mir schwanger war, hat meine Mutter Bachs H-Moll-Messe aufgeführt«, sagt Justus und schmunzelt. »Vielleicht hat mich das geprägt.«

Während der Schulzeit übt Justus mal exzessiv, mal mehr schlecht als recht. »Die Musik hat mir immer viel Spaß gemacht, aber ich habe nicht verbissen jeden Tag sechs Stunden gespielt.« Justus begeistert sich auch sehr für Sport, ist im Leichtathletikverein und spezialisiert sich auf Stabhochsprung – eine sehr anspruchsvolle Disziplin. »Der komplexe Bewegungsablauf hat mich gereizt.« Vier Mal die Woche Sport, Schule, Geigen- und Klavierspielunterricht, dazu vermehrt Konzerte mit verschiedenen Jugendorchestern – darunter auch das Landesjugendorchester: ­Justus’ Terminkalender ist pickepackevoll. »Ich habe damals mehr gearbeitet als heute«, sagt er und lacht.

Das Dirigieren ist damals noch kein Thema für ihn. Er will zwar »irgendetwas mit Musik« ­machen, doch den genauen Plan hat er noch nicht. Seine Klavierlehrerin glaubt an ihn und ist dabei sehr fordernd. Wenn sie den Eindruck hat, dass er nicht genug geübt hat, schickt sie Justus schon mal nach Hause – bei einem fast einstündigen Hin- und Rückweg eine Strafe, die den ­Jungen hart trifft.

Im Schulorchester kommt Justus das erste Mal mit dem Thema Dirigieren in Berührung. Er findet Gefallen an dem Gedanken, nicht nur den jeweiligen Instrumentenpart eines Musikstücks zu beherrschen, sondern einen Überblick über die gesamte Partitur zu haben. Mit einem Jugendorchester dirigiert er schließlich die »Freischütz-Ouvertüre« von Carl Maria von Weber. »Das Stück eignet sich sehr gut für den Anfang, weil es nicht zu komplex ist«, erklärt Justus. »Trotzdem muss es genau dirigiert sein.« Für Justus ist nun klar, dass er Musik mit Schwerpunkt Dirigieren studieren will.

J.-Thorau-(D.Bastar)-(4)

»Der komplexe ­Bewegungsablauf beim Sport hat mich gereizt. Ich habe ­damals mehr ­gearbeitet als ­heute«

Doch bevor es an die Uni gehen kann, wartet noch der Zivildienst. Am liebsten wäre Justus als Zivi an die Nordsee gegangen, seinem neuen Hobby frönen, dem Windsurfen. »Beim Sport ist es bei mir wie bei der Musik«, sinniert er. »Ich habe immer wieder Spaß, neue Sachen auszuprobieren. Innerhalb weniger Tage vertiefe ich mich komplett in die jeweilige Sportart oder Partitur.« Letztendlich leistet er seinen Dienst in einer Sonderschule in Berlin ab, damit er abends seinen Musikunterricht weiterführen kann.

Dennoch bewirbt er sich zu der Zeit an verschiedenen Hochschulen und fährt schließlich zu zwei Aufnahmeprüfungen: an die Hochschule für Musik »Hanns Eisler« in Berlin und die Hochschule für Musik »Franz Liszt« in Weimar. Er spielt bei beiden vor – und die Erfahrungen, die er dabei macht, hätten nicht unterschiedlicher ausfallen können. »In Berlin, an der ehrwürdigen ›Osthochschule‹, kam ich mir vor wie im Verhör«, erinnert sich Justus. »Alle Profs saßen mit todernsten Gesichtern in einer Reihe.« Abgefragt wird alles kreuz und quer durcheinander. »Spielen Sie mal das an«, »Dirigieren Sie das« oder »Harmonisieren Sie mal ›Der Mond ist aufgegangen‹« – Justus kommt irgendwie zurecht, fühlt sich aber sehr unwohl.

Ganz anders in Weimar. Die Atmosphäre ist freundlich, die Themen werden hintereinander bearbeitet. Dort ist es ihm auch nicht so unangenehm, Szenen aus Opern anzuspielen und die verschiedenen Stimmen zu »markieren«, wie es sich nennt. »Dabei spielt man am Klavier und singt Einsätze und markante Stellen an«, sagt Justus. »Dabei geht es nicht darum, die Stimmen besonders schön zu singen, man soll nur vermitteln, wo welche Instrumente oder Gesangsstimmen einsetzen.« Diese Technik ist sehr praktikabel, für Nicht-Sänger allerdings ungewohnt. »Das muss man vorher lange üben«, sagt Justus und fügt hinzu: »Und das ist anfangs total peinlich – vor allem zu Hause, wo einem Unbeteiligte ­zuhören können. Ich hatte lange Hemmungen beim Vorsingen.«

Erste Male
Justus entscheidet sich für die Musikhochschule im Weimar, von 2006 bis 2012 wird er dort studieren. In der Goethestadt sammelt er seine ersten Erfahrungen als Dirigent vor einem professionellen Orchester. »Mein ›erstes Mal‹ war sehr ungewohnt, ganz anders als bei einem ­Laienorchester«, sagt er. »Professionelle Musiker erwarten auch von dem Leiter Professionalität.« Ein guter Dirigent muss schnell einen Eindruck von den individuellen Eigenschaften seiner Musiker bekommen. Was sind seine Stärken und was seine Schwächen? Und eine Antwort auf die wichtigste Frage finden: Wie bringe ich das ­Orchester dazu, mir zu vertrauen? Justus hat dafür eine selbstbewusste Erklärung. »Ich bin geduldig und strukturiert und habe eine sehr ­ruhige Art zu arbeiten.« Mit dem Bild des aufbrausenden Impresario konnte er für sich nie viel anfangen. »Es wäre falsch, sich zu verstellen, denn fehlende Authentizität fällt dem Orchester auf. Außerdem geht es nicht um die Person sondern um die Musik. Alles was man tut, sollte im Dienste der Partitur geschehen.«

Nach seinem Diplom geht Justus als Pianist zum Staatstheater Karlsruhe, arbeitet dort ­zunächst als Korrepetitor. Er begleitet Sänger und Chöre beim Einstudieren neuer Stücke auf dem Klavier, wird jedoch auch als Dirigent eingesetzt, etwa bei »Un Ballo in Maschera« von Giuseppe Verdi, und »Schwanensee« von Pjotr Tschaikowski. Sein Verständnis, was ein Orchesterleiter unter realen Arbeitsbedingungen leisten muss, wird in dieser Zeit klarer und klarer. »Als Dirigent musst du den Musikern helfen, die musikalischen Farben aus der Partitur herauszuholen«, erklärt Justus. »Auf dem Papier stehen nur Noten und Zeichen. Doch ob das ›Forte‹ brutal gespielt wird oder die leise Passage einen drohenden Unterton erhält – das liegt im Ermessen des Dirigenten.« Und da könne auch die jeweilige Tagesform ein Werk um ­Nuancen verändern, etwa das Tempo gemächlicher oder zupackender wirken lassen.

J.-Thorau-(Sandra-Borchers)

»Das Dirigentenpult ist der Platz, wo ich immer hinwollte – auch wenn ich es anfangs noch nicht wusste.«

2014 folgt der Wechsel nach Aachen. Zuvor lernt er bei einem Probedirigat das Orchester kennen. Die Zusammenarbeit klappt bei der ­Ouvertüre zur »Fledermaus« von Johann Strauss sehr gut, bei Arnold Schönberg haben beide ­Seiten, Orchester und Dirigent, »sehr mit dem ungewohnten Stück zu kämpfen«, wie sich ­Justus ausdrückt. Das Gesamtergebnis ist trotzdem sehr gut, Justus wird 1. Kapellmeister und stellvertretender GMD in Aachen.

Nun wird Justus in der kommenden Spielzeit den scheidenden Kazem Abdullah ersetzen und Chef des Orchesters sein. Für einen 30-Jährigen ein enormer Erfolg und gleichzeitig eine anspruchsvolle Aufgabe. Bedenken hat er dabei nicht. »Das Dirigentenpult ist der Platz, wo ich immer hinwollte – auch wenn ich es anfangs noch nicht wusste.« Interessant sei auch, dass er beim Dirigieren nie wirklich aufgeregt war. »Auf jeden Fall nicht so wie beim Klavier- oder Geigenspiel. Ich vergesse sogar oft, dass hinter mir das Publikum sitzt.«

Justus_Marie-Luise-Manthei

Was ihn an seinem neuen Amt besonders reizt, ist die Aussicht auf die kommenden Sinfoniekonzerte und darauf, einen Orchesterklang über ­einen längeren Zeitraum zu formen. Zwar wird er aktuell auch schon bei einigen Opern als ­musikalischer Leiter eingesetzt, etwa bei ­»Orphée et Eurydice« von Christoph Willibald Gluck oder bei »Powder her Face«, der »Skandaloper« von Thomas Adès. Doch für seinen Geschmack könnte es mehr sein. »Bis zum Studium haben mich Opern wenig gereizt«, erinnert er sich. »Ich kannte mich einfach zu wenig aus.« Mit dem Aachener Orchester Wagners »Ring des ­Nibelungen« aufzuführen – das wäre etwas. »Man darf ja noch träumen.«

Justus’ Beförderung zum GMD ist momentan noch kommissarisch angesetzt, das heißt erst mal für die kommende Spielzeit. Obwohl diese erst im August beginnt, stellt Justus schon mal klar: »Ich fühle mich der Herausforderung gewachsen. Was die Zukunft bringt, werden wir sehen.« \

Fotos: David Hagemann, F. Behringer, D. Bastar, Sandra Borchers, Marie-Luise Manthei