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»Sitzen ist für’n Arsch!«

Schalke-Fans demonstrieren gegen Viagogo. Foto: ViaNOgo

Organisierte Fans in deutschen Fußballstadien rebellieren gegen den Kommerz und wollen in ihren Vereinen mitreden dürfen. Und setzen sich dabei zum Teil über jahrzehntelange Feindschaften hinweg.

VON MARCUS ERBERICH

Anpfiff, dann ist es ganz still. Auf dem Rasen läuft Profi-Fußball, das Stadion ist mit zehntausenden Menschen gefüllt, aber keiner davon macht einen Mucks. Genau zwölf Minuten und zwölf Sekunden lang hält diese Stille an. Für die Fans im Stadion ist es beklemmend, irgendwie unheimlich. Für Spieler und Trainer ist es irritierend. Und für die Zuschauer am Fernseher ist es vor allem eines: stinklangweilig.

Und damit hat die Protest-Kampagne »12:12« ihr Ziel erreicht. Organisierte Fans wollten damit im Herbst 2012 zeigen, dass sie beim Fußball das Salz in der Suppe sind, dass das Spiel ohne sie nicht das wäre, was es ist, nämlich ein Ereignis. Der Auslöser für den Protest, der in so gut wie allen deutschen Profi-Stadien gleichzeitig lief, war das neue Sicherheitskonzept der Deutschen Fußball Liga (DFL), das ein »sicheres Stadion-Erlebnis« gewährleisten sollte, so hieß es. Am 12.12.2012 sollte es verabschiedet werden. Fans befürchteten, dadurch in ihren Rechten und Möglichkeiten beschnitten zu werden, also demonstrierten sie. Schulter an Schulter, zumeist ungeachtet etwaiger Fan-Feindschaften. Der Leitspruch: »In den Farben getrennt, in der Sache vereint«.

Andere Proteste in der jüngeren Vergangenheit trugen so griffige Namen wie »Kein Zwanni für’n Steher«, damit protestierten Fans gegen die Erhöhung von Ticketpreisen. Ein weiterer hieß »Sitzen ist für’n Arsch!«, unter diesem Leitspruch kämpften Fans für den Erhalt der Stehplätze im Stadion. Der Slogan »Fünfzehn Dreißig« steht für den Protest gegen die Zerfaserung der Liga-Spieltage zugunsten der Fernseh-Übertragungen und »50+1 muss bleiben« für die Auflehnung gegen die Entscheidungsgewalt von Großsponsoren und Milliardären in Vereinen.

Der Schulterschluss unter Fußballfans verschiedener Vereine ist noch relativ neu. Fan-Experte Gerd Dembowski schätzt, dass es organisierten Protest in deutschen Fankurven seit 20 Jahren gibt: »In der Zeit, bevor es Handys und Internet gab, war es schwieriger, Proteste zu organisieren. Es darf nicht vergessen werden, wie sehr das Internet gleichzeitig die Interaktionsformen und die Erscheinungsformen von organisierten Fans erheblich beeinflusst hat.« Zudem sei das Jahr 1992 die »Geburt des postmodernen Fußballs gewesen«, damit meint Dembowski das Entstehen einer neuen Jugendkultur und die radikale Kommerzialisierung des Spiels.

Diese hat auch die so genannten »Ultras« auf den Plan gerufen. Dembowski: »Ultras verstehen sich selbst als Protestkultur. Sie wollen mehr Partizipation und weniger Kommerzialisierung.« So gut wie jeder größere Fußball-Verein, angefangen in den Niederungen des Liga-Systems, hat mindestens eine Ultra-Gruppierung. Meistens sind sie die Schaltstelle für organisierte Proteste. »Ultras sind ganz einfach sehr sichtbare Akteure in den Kurven – durch Banner, Choreos und Gesänge«, sagt Gerd Dembowski. Auf Flyern und in Internet-Foren tragen sie den Protest dann ins Stadion.

Auf der Webseite von ViaNOgo werden News verbreitet. Foto: Screenshot

Zuletzt protestierten Fans gegen »Viagogo« (Foto), ein Internet-Portal, das Tickets für Fußballspiele zu überhöhten Preisen verkauft. Der Vorwurf: Professioneller Schwarzmarkt, Abzocke. Der Slogan: »ViaNOgo – Fußball muss bezahlbar bleiben!« Gerd Dembowski sagt, Viagogo werde »an sich schon als Skandal empfunden. Die Preiserhöhungen sind dann ein riesiger Schlag gegen die Fans.«

Bei den Verbänden hat man indes längst auf die gewachsene Protestkultur im Stadion reagiert. Fanprojekte mit hauptamtlichen Angestellten lenken den Dialog zwischen Klubs und Fans, sie werden – wenn auch zum Teil noch bruchstückhaft – von DFB und DFL finanziell gefördert.

Mit Andreas Rettig wurde zudem ein DFL-Geschäftsführer eingesetzt, der die Nähe zu den Fans sucht. Dembowski: »Andreas Rettig ist bemüht, einen Dialog herzustellen. Zum Beispiel hat er den Ultras Nürnberg ein Interview gegeben und er war ungefragt bei einem Fan-Kongress in Berlin. Das hätte er nicht machen müssen.« Für den Fan-Experten ist das ein klares Signal, dass Anliegen der Fans ernst genommen werden: »Anstelle von Rettig einen Hardliner einzusetzen, wäre definitiv das falsche Signal gewesen.«

Ohnehin, glaubt Dembowski, komme von den Protesten in den Kurven eine ganze Menge in den Büros der Verantwortlichen an: »Die Kampagne 12:12 hat bei DFB und DFL trotz ihrer Querfront mit rechtsoffenen Gruppen großen Eindruck gemacht.« \

GERD DEMBOWSKI
Gerd Dembowski lebt in Berlin und Hannover, ist seit 19 Jahren als Sozialwissenschaftler mit Bildungs-, Sozialarbeits- und Forschungsprojekten international unterwegs. Seit 2012 arbeitet er in der Kompetenzgruppe Fankulturen & Sport bezogene Soziale Arbeit (KoFaS) am Institut für Sportwissenschaft der Leibniz Universität Hannover und ist Mitglied der AG Antidiskriminierung beim DFB. Darüber hinaus ist er Mitglied der derzeit entstehenden FARE Academics zur wissenschaftlichen Beratung des Netzwerks Football Against Racism in Europe. Quelle: www.gerd-dembowski.de

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