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NEO-Porträt: Jodel-Gründer Alessio Borgmeyer

Jeder kennt Jodel. Die App, mit der man anonym mit Menschen in der Nähe kommunizieren kann. Doch wenige wissen, dass die Geschichte des Start-Ups vor sechs Jahren am Küchentisch einer Aachener Studenten-WG begann. Wir sprachen mit Gründer und CEO Alessio Borgmeyer über seine größten Fuck Ups, das Thema Produktivität, Saudi Arabien und woran die Jodel-Macher gerade arbeiten.

INTERVIEW SIMON WIRTZ

War Jodel dein erstes Geschäftsmodell?
Ja, Jodel war meine erste und einzige Gründung, an der ich auch heute noch mit vollem Herzen arbeite. Davor habe ich Promotion-Jobs gemacht und im Supermarkt gearbeitet, das war’s aber auch.

Also ein erfolgreicher Start?
Nee, da gab’s schon gut auf die Fresse (lacht). Die Liste an Fuck Ups ist unendlich lang, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Hier eine witzige Geschichte: Als wir in Aachen gelauncht haben, waren wir in unseren Augen zwar schon relativ erfolgreich, aber viel zu erfolgreich für unsere Server. Nachdem wir im Auslandssemester in den USA bei Tests gemerkt haben, dass die App viel attraktiver ist, wenn sie lokal basiert ist, haben wir das Interface über Nacht umgebaut. So konnten die Nutzer jetzt mit Leuten in ihrer Nähe kommunizieren. Dafür war sie technisch aber gar nicht ausgelegt. Und das führte dazu, dass die App ab ein paar Tausend Nutzern komplexe Berechnungen machen musste – da gingen unsere Server in die Knie! Der Feed brauchte gut und gerne mal zwei Minuten zum Laden. Das hat uns bestimmt ein, zwei Monate verfolgt, bis wir das gelöst bekommen haben.

Was war die Lösung? Habt ihr Kapazitäten zugekauft?
Nee, dafür hatten wir kein Geld. Unsere Engineers mussten sich unter Hochdruck neue Ideen überlegen, was sie umbauen können. Da saßen wir Tag und Nacht dran. Und irgendwann haben wir es gelöst bekommen. Unser Hauptengineer meinte damals: „Ich brauche jetzt mal ne Woche oder zwei, um das alles ordentlich zu machen. Das geht so nicht.“ Worauf ich nur meinte: „Ach, kannste später machen. Läuft doch alles!“. Und da ist uns das Ding um die Ohren geflogen. Das Learning hier ist also: Wenn man schnell etwas baut, das ist wie einen Kredit aufzunehmen. Dann hat man heute mehr Zeit, aber morgen muss man doppelt so viel zurückzahlen und es richtig ausbauen. Das nennt man technical debt.

Lass uns mal über Produktivität sprechen. To do-Listen kennt jeder. Aber was ist dein ganz persönlicher Erfolgstipp?
Also erstmal – ich bin kein Productivity-Junkie. Ich bin eher bis spät in die Nacht wach, und da habe ich gute Ideen, das ist natürlich nicht perfekt für einen normalen Arbeitstag. Trotzdem: Sehr wichtig ist ein vernünftiges E-Mail-System. Wenn ‘ne E-Mail reinkommt, dann schau ich: Kann ich die in zwei Minuten beantworten? Dann beantworte ich sie. Wenn nicht, dann schiebe ich sie in einen Ordner, snooze sie sozusagen. Damit ist mein Posteingang immer null. Früher hatte ich die alle im Posteingang drin, und da konnte ich mich schwer auf andere Sachen konzentrieren, weil ich immer diesen riesigen Backlog gesehen habe. Das hat die Gedanken getrübt. Wenn ich manchmal sehe, wie andere E-Mails benutzen, da steht da auf der App 99999, also unendlich, ich würd‘ durchdrehen (lacht). In meiner Position ist außerdem das Delegieren ein großes Learning. Wenn ich nicht delegiere, kann ich nicht meine Produktivität erhöhen. Ich musste lernen, wie ich richtig und gut delegiere, und wann ich es nicht mache.

Was sind für dich gute Kommunikationstools?
Das Beste ist das ganz klar Slack. Aber man muss auch aufpassen, weil die Kommunikation durch Slack so einfach gemacht wird, dass man nur noch die ganze Zeit auf Slack hängt und nichts mehr gebacken kriegt. Insbesondere seit Corona rufe ich deshalb Leute einfach an, das dauert eine Minute, und ist sehr effektiv. Multitasking ist hier eher ineffizient.

Welche App ist für dich im Alltag unverzichtbar?
Privat ganz klar WhatsApp, das ist wie die Luft zum Atmen. Wichtig ist aber auch Google Maps, ich weiß nicht, wie ich sonst irgendwo hinkäme. Eine andere App, die für mich essentiell ist, ist Shazam. Ich liebe Musik und höre überall plötzlich spannende Musik. Und es ist das Beste, was es gibt, dass man sich diese Musik einfach überall hin mitnehmen kann. Deshalb finde ich auch Spotify und Audible toll.

Gibt es einen Jodel, der so geil war und dich so inspiriert hat, dass er dir bis heute in Erinnerung geblieben ist?
Ich habe natürlich unglaublich viele Jodel gesehen. Es motiviert mich weiterzumachen, um zu sehen, was die Community so kreiert und was da entsteht. Eine Sache, die mir auf jeden Fall im Kopf geblieben ist, ist der Türsteher-Jodel, das war 2016, als wir noch nicht so bekannt waren in Deutschland.

Erzähl mal…
Da war ein Typ in München auf dem Oktoberfest, und hat dann gejodelt, seine Freundin wäre mit jemand anderem nach Hause gegangen. Die hat die Tür ihrer Wohnung nicht aufgemacht. Daraufhin ist die Community ausgerastet, die Leute haben ihn motiviert, vor der Tür stehen zu bleiben, bis derjenige, der bei seiner Freundin ist, da rauskommt. Unterstützung gab es auch offline – da kamen tatsächlich Leute hin, um ihn zu unterstützen! Und so wurde das der „Türsteher-Jodel“, weil er sich nicht vom Fleck bewegt hat. Der Jodel wurde dann damals bei Facebook hochgeladen und ist so viral gegangen, dass viele Leute über diesen Jodel zum ersten Mal die App kennengelernt haben.

Kommst du überhaupt noch selbst zum Jodeln?
Auf jeden Fall! Jodel nutze ich jeden Tag. Dabei verschmilzt wohl die Nutzer- und CEO-Perspektive. Aber ich bin immer noch begnadeter Jodeler seit eh und je.

Vor einem Jahr hast du in einem Interview gesagt, dass Jodel noch nicht profitabel ist, aber es sehr bald sein wird. Wie sieht es jetzt aus?
Wir hatten schon profitable Monate, sind aber aktuell wieder auf dem Investment-Pfad. Wir sind anders unterwegs, verdienen jetzt solide Euros, und das ist eine andere Ausgangslage.

Bei einer Keynote im letzten Jahr hast du erzählt, dass ihr auch in Saudi Arabien aktiv seid. Was treibt ihr da?
Das ist eine gute Frage! Wir sind in Saudi Arabien organisch gewachsen. Aus irgendeinem Grund hatten wir Anfang 2017 gut 20-50 Leute in Riad, der Hauptstadt. Und die kleine Community ist auf 5000 gewachsen. Das war so spannend, dass der Content bei Twitter geteilt wurde, und dann ist das explodiert. Innerhalb von kurzer Zeit ist gefühlt ganz Saudi Arabien zu Jodel konvertiert.

Jodel ist anonym, trotzdem können individuelle Datenprofile erstellt werden. Sind die Daten bei euch sicher?
Natürlich, da legen wir großen Wert drauf. Wir haben einen anderen Ansatz als Instagram oder Facebook, wo man alles von sich darstellt. Das ist auf technischer Ebene auch wichtig. Wichtig ist es, zu wissen, dass alle Nutzer am Anfang eine unique User-ID erhalten, die verschlüsselt das Profil ist. Wir haben von dir als Nutzer bestimmte Datenpunkte, zum Beispiel wo du gepostet hast, und was du gepostet hast, und jeder Post wird deiner ID zugeordnet. So können wir Leute blocken, und im Fall der Fälle, wenn es um Leben und Tod geht, müssen wir die Daten auf Anordnung eines Richters herausgeben, und das tun wir dann auch.

Du selbst hast dein Studium geschmissen, als Jodel groß wurde. Denkst du, dass Studienabbrecher die besseren Gründer sind?
Nein, das denk ich nicht. Ich glaub aber schon, dass es wichtig ist, dass man Commitment zeigt. Auch bei uns lief nicht immer alles gradlinig. Wir haben es zwar geschafft, schnell Funding zu bekommen, sind nach Berlin gezogen, haben in den USA gelauncht, aber das Produkt war einfach nicht bereit. Und da mussten wir Commitment zeigen. Ich glaube, es ist viel schwieriger, diese Täler zu überwinden, wenn man nebenbei gründet. Die, die lange am Ball bleiben, werden belohnt. Und als Student hat man ja nichts zu verlieren. Man hat keine Familie, keine Kosten, gar nichts. Eine bessere Zeit, zu gründen, gibt es nicht. Von daher: Einfach trauen!

Dein größtes Vorbild?
Das habe ich nicht. Aber ich bin sehr inspiriert von vielen Persönlichkeiten und Geschichten. Lese mir sehr gerne Biographien durch, höre Podcasts, aber eine einzelne Person gibt’s nicht.

Gut sechs Jahre seid ihr jetzt auf dem Markt. Wie sieht Jodel’s Zukunft aus?
Ich glaube, wir stehen noch ganz am Anfang. Wir haben ja über Studenten angefangen zu wachsen. Irgendwann haben wir dann gemerkt, dass auch Nicht-Studenten die App nutzen. Wir haben deshalb verstärkt daran gearbeitet, dass die App für beide Gruppen interessant bleibt. Das haben wir jetzt in den ersten Märkten umgesetzt. Also im Endeffekt: Mehr Content Diversity. Über die Channels, die in Deutschland noch nicht so aktiv sind, ermöglichen wir eine größere Content-Breite, andere Content-Formate. Und der andere Teil ist die Personalisierung. Aktuell gibt es ja die drei Modi „Neueste“, „meist kommentiert“ und „Lauteste“. Wir arbeiten daran, dass es weniger noise und mehr value gibt. Das man also schneller Posts findet, die für einen interessant sind. Wir wollen, dass man, wo auch immer man sich auf der Welt befindet, Jodel öffnen kann und direkt mit Leuten verbunden ist, die in der Nähe sind und die gleichen Interessen haben. Außerdem möchten wir noch mehr lokale Kooperationen: Die Polizei Berlin ist zum Beispiel verifiziert, und jodelt direkt Updates, die für die Community interessant sind. Und wir spielen mit In-App-Käufen für ein werbefreies Jodel rum.

Dann lass uns hoffen, dass Jodel und seine Community in den nächsten Jahren noch weiter wachsen werden. Vielen Dank für das Gespräch! 

JODELSTORY

Der ehemalige RWTH-Student Alessio Borgmeyer hatte 2014 zusammen mit Kommilitonen die erste Idee für eine App, die standortbasierte und anonyme Kommunikation möglich machen sollte. Was zuerst „TellM“ hieß, wurde nach mehreren Entwicklungsjahren und Testphasen in Kolumbien, wo Alessio zum Schüleraustausch war, und in Kalifornien, wo er ein Auslandssemester verbrachte, zum heutigen „Jodel“. 2019 unter anderem vom Forbes-Magazin unter den „30 unter 30“ im Bereich Technik in Europa gelistet, kann Alessio heute zufrieden auf über eine Million aktiver Nutzer und einer siebenstelligen Anzahl an Jodeln pro Tag blicken.