Stark im Kopfrechnen ist Christina Büsing (35) nicht unbedingt. Muss sie auch nicht sein, um an der RWTH Aachen Mathematik zu lehren. Warum logisches Denken viel wichtiger für sie ist und ungemein praktisch, um Forschung, Lehre und Familie unter einen Hut (zylinderförmig, Volumen V=G*h) zu bekommen.
VON THOMAS GLÖRFELD
Schreibtisch, Stuhl, Sitzecke und an der Wand ein Whiteboard – von oben bis unten versehen mit kryptischen Formeln, wie man sie nur aus Filmen über, nun ja, Mathematikprofessoren kennt. Nur ist das gerade echt. Und passiert in einem der unzähligen Professoren-Büros der RWTH Aachen. Als gebranntes Kind, das seine Eltern irgendwann soweit hatte, dass sie stolz auf jede »noch ausreichende« Mathe-Leistung waren, musste ich mich gleich zu Beginn meines Interviews als ein solches outen. Ein Reflex, um die eigene Unkenntnis lieber gleich offensiv zu zeigen, bevor diese erst nach und nach unangenehm sichtbar werden würde – wie damals allein vor der Tafel stehend. Zum Glück ist Christina ganz anders als mein Mathelehrer zu Schulzeiten. Das fängt bereits beim einfachen Attribut »sympathisch« an. Das ist sie nämlich durch und durch. Und ohne, dass es mir bewusst wird, entspanne ich mich ganz schnell. Ja, ich bin – trotz enormem Mathe-Kindheitstrauma – tatsächlich angstfrei bei unserem Treffen in ihrem Büro.

Foto: Peter Winandy
Mysterium Mathe
Symphatisch war Christina beim Thema Mathematik übrigens schon immer, auch wenn sie zuerst doch ein Jurastudium einschlagen und in die Fußstapfen ihrer Eltern treten wollte: »Irgendwann fütterte mich meine Mathelehrerin aber dann mit zusätzlichen Matherätseln, die mich erst lange wach hielten und später sogar aus dem Schlaf rissen, weil mir die Lösung eingefallen war.« Was arg nach Klischee klingt, kann ein ganzes Stück weit revidiert werden, denn die nächtens von der REM-Phase entworfenen Antworten stellten sich morgens früh meist als großer Quatsch heraus. Trotzdem: »Wenn es etwas gibt, das mich so begeistert, kann es nicht falsch sein«. Gedacht und aufs Bauchgefühl gehört. Zum anfänglichen Schrecken ihres Vaters, der sie schon in einem fensterlosen Kämmerlein mit Rechenschieber sah.
»Wenn es etwas gibt, das mich so begeistert, kann es nicht falsch sein.«
Für Christina ging es dann nicht in ein dunkles Kellerzimmer, sondern zum Studium der Mathematik mit dem Nebenfach BWL Richtung Münster. Doch erst im Auslandssemester in Madrid hat sie ihr eigentliches Steckenpferd, die Optimierung, »kennen und lieben gelernt« – eine Liebe, die, ich habe es schnell bemerkt, bis heute andauert. Seitdem ist die robuste und diskrete Optimierung mit Christina verknüpft. Weil diese in Münster nicht gelehrt wurde, ging es 2010 nach Berlin zum Hauptstudium, wo sie gleich ihre Promotion hinterher schob. Danach weiter als Post Doc nach Aachen zu den BWLern, ehe sie schließlich 2015 wieder am Lehrstuhl für Mathematik landete und ein Jahr später ihre Juniorprofessur für Robuste Planung in der medizinischen Versorgung begann. Klingt nach einer ziemlich gradlinigen Karriere bisher, die erst recht zur Geraden wird, weil Christina dazwischen noch Platz für drei Kinder hatte.

Foto: privat
Robuste Planung
Wie man das alles schafft? Könnte im Nachhinein durchaus mit dieser ominösen robusten Optimierung zu tun haben. Um mir diese eingangs zu erklären, hat Christina sehr schnell zwei DIN A4 Seiten voll skizziert. Für mich sind es ein Haufen Buchstaben und ein riesiges Fragezeichen im Kopf. Für Christina das Selbstverständlichste auf der Welt. Bei ihrem Versuch einer Annäherung für einen Germanisten wie mich, greift Christina auf das »Problem des Handlungsreisenden« zurück. Doch Vorsicht, hier geht es nicht um Arthur Millers Handlungsreisenden, sondern um ein kombinatorisches Optimierungsproblem. Die Aufgabe besteht darin, eine Reihenfolge für den Besuch mehrerer Orte so zu wählen, dass die gesamte Reisestrecke des Handlungsreisenden möglichst kurz und die erste Station gleich der letzten Station ist.
Die Freude daran, sinnvoll Wege zu verknüpfen, findet sich also durchaus auch in ihrem eigenen Lebenslauf wieder. Zweimal zog es sie in ihrer Elternzeit in die Ferne: nach Wien und nach Lancaster – der Liebe zu den Städten wegen und, weil sie dort gleichzeitig mit befreundeten Kollegen weiter forschen konnte. Einer der Vorteile, an der Uni zu arbeiten, statt in die Wirtschaft gehen: Forschen, worauf man Lust hat – ohne Zeitdruck: »Mich fasziniert an der Uni die Vielzahl der Aufgaben. Ich forsche an Praxisproblemen, lehre aber auch, versuche Studenten zu begeistern und lerne dabei selbst Neues dazu. Plötzlich stelle ich fest: Der Bereich wäre spannend für ein Projekt – und um mich selbst darin einzuarbeiten, mache ich dann eine Vorlesung draus.«
Im Kern beschäftigt sich Christina also mit Fragen der Optimierung. Dabei geht es allerdings tatsächlich nicht nur darum, einem Navigationssystem allerlei Tricks beizubringen. Aktuell beschäftigt sie sich auch mit der Logistik in Krankenhäusern. Sowohl, wie man das Betten-Management im Allgemeinen gestalten kann, sodass eine möglichst hohe Auslastung, aber auch die Versorgung aller Patienten und Notfälle gesichert ist, oder auch, wie jeder einzelne Patient möglichst reibungslos durch EKG, Röntgenstation und Diagnose geleitet wird, ohne dass es zum Leerlauf in den einzelnen Stationen kommt.
Im Kern beschäftigt sich Christina mit Fragen der Optimierung. »Ich finde es wichtig, strukturiertes Denken zu lernen, eigentlich gehört es in die Schule.«
Wo sind die Zahlen?
Mit Schulmathematik haben ihre Vorlesungen dabei nichts mehr gemein, das bezeugt schon der Blick auf das vollgeschriebene Whiteboard, auf dem sich zwar zahlreiche Formeln finden, Zahlen sucht man in dem Wirrwarr aus Laiensicht allerdings vergebens. Tatsächlich findet sich für die Optimierung kein Platz in den Schullehrplänen, »dabei finde ich es wichtig, strukturiertes Denken zu lernen, eigentlich gehört es in die Schule«. Damit Christina jungen Menschen trotzdem die andere Seite der Mathematik zeigen kann, bietet sie regelmäßig Workshops an Schulen an und wirkt auch an der RWTH-Wissenschaftsnacht mit, wo unter anderem das Problem des Handlungsreisenden ganz plastisch auf einer Deutschlandkarte mittels Trial-and-Error Verfahren für Fachfremde und jüngere Menschen anschaulich gemacht wird.

Foto: Anna Wawra
Auch wenn Christina selbst versucht, nicht vor jedem Gemüseregal an mathematische Optimierungen zu denken, ganz frei machen kann Sie sich von diesem Trieb nicht: »Wir wollten für unsere Tochter Emily einen Kita-Platz finden und sind langsam verzweifelt, weil wir nichts gefunden haben. Das ist doch ein klassisches Optimierungsproblem: Wie kann ich die Kinder am besten auf die Kitaplätze verteilen, so dass jeder in seine Wunschkita kommt und keine Plätze frei bleiben.« Auch wenn Christina natürlich als Mutter weiß, dass man »Kinder nicht so einfach in Formeln fassen kann«. Zumindest ist der Kontakt mit der Stadt Aachen bereits hergestellt, um auch hier noch ein Quäntchen mehr zu optimieren. Da sag nochmal einer: Mathe brauch ich nach dem Abi eh nie wieder … \