Abende zwischen Bühne, Bahn und Einsamkeit: Tag für Tag reisen unzählige Slam-Poeten kilometerweit durchs Land, um manchmal nur fünf Minuten hinterm Mikro, aber vor hunderten von Zuschauern zu stehen. Einer dieser Menschen ist Jessy James LaFleur – in Aachen geboren und in der Ferne beheimatet.
VON ROBERT TARGAN
Manchmal fällt es schon schwer, da durchzusteigen: Jessy James LaFleur – wo hört denn da der Klarname auf und fängt die Kunst an? Doch besagte Dame packt umgehend noch ein wenig Verwirrung oben drauf, indem sie weitere Namen auflistet, die auch alle in ihrem Pass zu finden sind. Klingen übrigens nicht ausschließlich so schwungvoll wie oben genannte. »Die schreibst Du aber nicht auf«, lautet so auch eher der Befehl statt die Bitte, bevor das Interview losgeht. Spätestens da wird klar, mit welch Selbstbewusstsein im Gepäck Jessy unterwegs ist.
Dieses hat sich die gebürtige Aachenerin über die Jahre erkämpft, hat es gepflegt und an all die Orte mitgenommen, die sie bereist hat: Nizza, Sydney, Brighton und, nun ja, Hannover. Das ist weder ein Knick in der Reiseplanung, noch in der Biografie. Das ist Jessys Lebensstil und dieser weiß zu beeindrucken.
Zu Hause auf der Bühne
Szenenwechsel, Slam: »Ich beginne meinen Tag und mein Experiment damit, einen Zettel ans Schwarze Brett zu hängen, um allen Mietern meines Hauses ohne triftigen Grund den totalen Krieg zu erklären!« Mit fantastisch-durchdringender Stimme und erhobenem Zeigefinger raunt Jessy James LaFleur in ein Mikrophon, hat das Publikum sofort auf ihrer Seite und knapp fünf Minuten Zeit. »Poetry Slam« heißt das Format und gleichzeitig die Heimat, in der Jessy anzutreffen ist. Eine Bühne, ein Publikum, ein Kampf mit Worten: Eigens geschriebene Texte werden Abend für Abend an Frau und Mann gebracht; am Ende entscheiden die Zuhörer über den besten Auftritt des Abends.
Aber kann eben diese Bühne wirklich ein Zuhause sein? »Wenn ich Menschen kennenlerne und diesen von meinem Lebensstil erzähle, steht meist ein ganz bestimmtes Wort im Raum – ›Verantwortungslosigkeit‹. Viele denken, ich würde ein Hippie-Leben führen und alle möglichen Freiheiten genießen, dabei benötigt es jede Menge Disziplin, um Abend für Abend auf ganz verschiedenen Bühnen zu stehen.« Soll sagen: Kein Alkohol, keine Drogen, dafür aber ein klarer Kopf. Und den benötigt es, bucht Jessy doch einen Großteil ihrer Auftritte selbst: »Es kommt schon mal vor, dass ich einen kompletten Monat an einem Abend plane – Auftritte, Anschlüsse, Unterkünfte. Wer zehn Zug- und vier Flugtickets hintereinander bucht, muss einfach hellwach sein!«
Doch auch Jessy ist nicht unfehlbar: Kürzlich brachte sie Abflugs- und Ankunftszeit durcheinander. LaFleur hockte samt Koffer in Schönefeld und sah dem angepeilten Flieger nach Belgien vom Terminal aus hinterher. Ärgerlich? »Nein. Irgendwann erreicht man eine gewisse Gelassenheit, die einem verdeutlicht, dass man die Situation nicht mehr ändern kann.«
Die Poetin saß allein am Flughafen und atmete tief durch, als plötzlich das Smartphone summte: Beim Poetry Slam in Hamm sei für den Abend ein Platz im Line-Up frei geworden – geht da was? Es ging, denn umgehend schnappte sich Jessy die S-Bahn zum Berliner Hauptbahnhof und dort den nächsten ICE nach Hamm. Die Fahrt nach Westfalen blieb natürlich nicht ungenutzt – kurzerhand wurden Übernachtung und Mitfahrgelegenheit nach Brüssel geklärt. Ein Leben zwischen Terminkalender, Schlafsack und Bordrestaurant – aufregend, aber eben nicht Hippie-kompatibel.
Verwundbare Zeiten
Während Jessy James LaFleur vom Abenteuer des Unterwegsseins berichtet, schweift ihr Blick auch immer wieder sehnsüchtig durchs Fenster: Da ist das Frankenberger Viertel – auch so eine Heimat, allerdings mit noch viel mehr Geschichte und Emotionen. Befragt nach ihrem Jugendtraum, wirft sie lakonisch den Begriff »Pro-Skater« in den Raum. Da muss sie selbst über ihre jugendliche Naivität lachen, wird dann aber plötzlich ernst. Ein schwerer Autounfall in der Nacht vor ihrem 18. Geburtstag ließ nicht nur diesen Traum platzen und Jessy zur Besinnung kommen: »18 Jahre nach meiner Geburt befand ich mich also wieder im Aachener Klinikum, lag dort fast drei Monate und wurde zwölfmal operiert.«
Sitzt man der heute 30-jährigen Poetry Slammerin gegenüber, ahnt man, dass sie auch aus dieser Krise das Beste machte: »Eine gewisse Zeit lang war es nicht klar, ob ich je wieder ohne Probleme laufen könnte. Aber ich habe im Klinikum mir wichtige Menschen kennengelernt. Ein Mädchen litt unter der 70-prozentigen Verbrennung ihrer Haut; ein anderer Kollege hing am Dialysegerät. Wir waren eine richtig tolle Zombie-Clique!« Wer so redet, hat keine Angst.
»Ich fühle mich mit meinen Texten auf der Bühne unheimlich verletzlich, viel mehr, als im richtigen Leben.«
Zurück zur Frage nach dem Zuhause: Wie ist das mit dem Heimweh? Sehnsucht, falls ja, wonach überhaupt? »Das ist bei mir eher ein personengebundenes Gefühl. Kaum mache ich mich am Tag nach einem Auftritt wieder auf den Weg, trauere ich ein wenig den Menschen nach, mit denen ich am Vorabend noch so eine tolle Zeit hatte. Man vermisst keine Orte, sondern Menschen.« Und von diesen hat Jessy James LaFleur in den zurückliegenden Jahren hunderte kennengelernt, hat sie doch eben unzählige Bühnen erobert. Was sie dann aber plötzlich erzählt, ja, fast beichtet, passt so gar nicht ins Schritt für Schritt entstandene Bild: »Ich leide unter unfassbarem Lampenfieber, bevor ich hinters Mikro trete. Das geht bis hin zu körperlichen Schmerzen. Sobald es dann jedoch los geht, sind all diese Dinge vergessen.«
Bretter und Scheinwerfer, das sind aber längst keine Heilmittel – wer das glaubt, der macht es sich zu einfach. Das Format »Poetry Slam« öffnet dem Künstler gerade mal fünf Minuten den Vorhang; fünf Minuten, in denen man nur wenig Zeit hat, um Vieles falsch zu machen: »Ich fühle mich mit meinen Texten auf der Bühne unheimlich verletzlich, viel mehr, als im richtigen Leben.« Fast ist man auf eine seltsame Art und Weise erleichtert, diese Worte von Jessy zu vernehmen. Da ist die furchtlose Zombie-Clique von damals meilenweit entfernt und ein Lyrik und Prosa schreibendes Mädchen erzählt.
Immer durchgeboxt
Allzu zart besaitet möchte sich unsere Titelheldin dann aber doch nicht geben. Die Frage nach der Frau, die oft allein durch die Städte reist und sich nicht selten kurzfristig eine Bleibe organisiert, musste kommen. Jessy James LaFleur ist wieder ganz bei sich und dem Tour-Leben: »Es gibt zwei Dinge, für die ich immer dankbar bin – eine Matratze zum Übernachten und eine warme Dusche am Morgen.« Und das darf als durchaus anspruchslos bezeichnet werden, schlief die Slam-Poetin doch auch schon in »echt krassen Löchern«, auf Bahnhöfen oder Parkbänken. Da geht es weniger um den Komfort, als um die eigene Sicherheit. Doch, na klar, auch da hat Jessy vorgesorgt, ist sie doch nicht nur im Wortgefecht geübt, sondern auch in den Grundzügen von Selbstverteidigung und klassischem Boxen. Noch Fragen?
Mittlerweile sollte durchaus klar sein: Hier brennt jemand zu 110 Prozent für seine Kunst. Beinahe unpassend erscheint da eine ganz bestimmte Frage, die sich dennoch immer wieder aufdrängt: »Kann man davon leben?« In der Spoken-Word-Szene kursiert die sprachlich fein geschliffene Antwort: »Nicht davon, aber dafür.« Von Wortgewandtheit lassen sich allerdings nur schwerlich Rechnungen begleichen. »Das ist, wie ich finde, stets eine Frage der Prioritäten. Monatliche Miete, ein Handy-Vertrag und Versicherungen; all das lässt sich nicht mit fünfminütigen Slam-Texten finanzieren.« Jessy hat vieles aufgegeben und setzt gleichzeitig auf Freunde, die für sie da sind – etwa mit einer Schlafcouch in Berlin. »Die lieben, was ich mache«, fügt die Künstlerin knapp hinzu und mehr Erklärung bedarf es da auch gar nicht.
Im Frankenberger Viertel dämmert es längst; in der Kneipe, die als Interview-Ort dient, wird vermehrt Bier gezapft. Jessy James LaFleur blickt auf ihre Apfelschorle und dann nach vorn. Es stehen weitere Engagements an; Spoken-Word-Auftritte, Slam-Workshops, Rap-Gigs. Und kurz vor Weihnachten dann noch mal Heimat, aber nicht heimelig: Poetry Slam vor rund 1.000 Menschen im Aachener Audimax. Doch auch auf dieser Bühne wird Jessy für einen Abend ihr Zuhause finden. \
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Fotos: Tobias Rüger, Manfred Koppensteiner und Matthias Stehr