Porträt Vom Punk zum jungen Unternehmer: Piercer Johnsen ist seinen eigenen Weg gegangen.
von Sebastian Dreher
Eupen, Deutschsprachige Gemeinschaft, knapp 18.000 Einwohner. Hier ist Kevin Derwahl aufgewachsen. In, wie man so sagt, »geordneten« Verhältnissen. »Kleinbürgerlich, spießig« sagt Kevin, den kaum noch einer Kevin nennt. Bekannt ist er als Johnsen. »Ich wollte nie so sein: einmal im Jahr Caravan-Urlaub, Familie, Haus, Hund.« Das jugendliche Leben unter der Kleinstadt-Käseglocke konnte er nur ertragen, indem er sein Äußeres veränderte. »Ich wollte nicht in den Spiegel gucken und meinen Vater sehen.«
Punk- und Hardrockbands zeigten ihm, dass es neben Ausbildung und Sportverein noch ein interessanteres Leben gab. Mit dem passenden Look konnte er zeigen: ich gehe meinen eigenen Weg. Löcher in den Klamotten, gestylte und rasierte Haare – alles, was anders und wild aussah, war willkommen. Gleichgesinnte gab es genug, als lärmende Gruppe streiften die Punks und Hardcores durch die Stadt, soffen, machten Leute an und ruinierten Partys. Mit 18 verkaufte Kevin die Playstation, die er zum Geburtstag bekommen hatte, und ließ sich von der ergatterten Kohle sein erstes Tattoo machen – ein asiatisches Schriftzeichen. »Du endest noch als Müllmann« sagte Mutter Doris. Vater Karl-Heinz hatte schon vor langer Zeit aufgegeben, dem Sohnemann sein eigenes Leben über zu stülpen.
Irgendwann kam ein neuer Trend in Mode: Piercings. Weil Johnsen als einziger einen Führerschein besaß, durfte er die Pioniere aus seiner Clique zu ihren Stech-Terminen fahren. »Ein Kollege hat mir dann einfach ungefragt einen Termin mitgebucht.« Fast eine Stunde lang hat er aus Nervosität auf die Frau vom Piercingstudio eingeredet, bevor diese ihm das Metall durch die Zunge stecken konnte. Beim anschließenden Blick in den Spiegel wurde ihm klar: die individuelle Gestaltung des eigenen Fleisches war genau sein Ding. Monatlich ließ er sich neue Piercings machen. Mit jedem Stück Blech wuchs die Ablehnung der Gesellschaft. Sein Äußeres spiegelt mehr und mehr seine Verachtung gegenüber dem kleinbürgerlichen Leben wider. »Ich hörte die Leute im Supermarkt hinter mir tuscheln, doch das war mir egal.«
Nicht so egal war die Erfahrung, aus dem Lokal geschmissen zu werden, in dem er für sich und seine Freundin einen Tisch reserviert hatte. Auf seinem Zenit hatte Johnsen rund 35 Piercings an Kopf und Körper, dazu Tattoos, rasierte Haare und die szenetypische Kleidung. So manches Kind fing bei seinem Anblick an zu weinen, »normale« Klassenkameraden grüßten ihn nicht mehr und seine Großeltern hätten ihn am liebsten ins Irrenhaus gesteckt. »Extrem ist geil« war sein Motto und nur wenige hätten auch nur einen Cent darauf gesetzt, dass aus diesem Rumtreiber noch jemand wird, der auf eigenen Füssen stehen kann.
Seit seiner Piercing-Erfahrung war klar: Körperschmuck ist seine Berufung und soll sein Beruf werden. Es folgten zwei schicksalhafte Begegnungen: als erstes hörte Johnsen von einem Mönchengladbacher Piercingstudio, das Versuchskaninchen für Übungszwecke suchte. Ohne lange zu überlegen, bot er seinen Körper an. Schnell war klar, der Junge ist etwas Besonderes. Er machte eine Ausbildung als Piercer und wurde sogar zeitweise Geschäftsführer von »Serious Piercing«.
Nach vier Jahren folgte Begegnung Nummer zwei: in seinem Aachener Stammtätowierstudio »The Sinner and the Saint« kam er mit den Betreibern ins Gespräch. Johnsen sollte mit ins Geschäft einsteigen. Sein »The Sinner and the Saint«-Ableger – schräg gegenüber zum Stammladen in der Sandkaulstraße gelegen – eröffnete 2006. Seitdem sind die Auftragsbücher voll, die Leute klopfen sogar nach Feierabend an die Scheibe. »Es ist ein Fulltime-Job, aber es ist das, was ich machen möchte«, meint Johnsen, der Geschäftsmann. Natürlich bleibt für die alte Clique kaum noch Zeit.
Das Auseinanderleben des Freundeskreises schmerzt ihn sehr, die gute alte Zeit kommt eben nicht zurück – doch das soll sie auch nicht. »Ich bereue nichts von dem, was ich in meinem Leben gemacht habe. Ich wohne nach wie vor in Eupen, sehe die Leute, die mich früher abgelehnt haben – das ist eben meine Heimat, hier kann ich zur Ruhe kommen.« Seine Mutter ist mittlerweile stolz auf ihren Sohn. Vater Karl-Heinz sieht in ihm immer noch den undankbaren Sohn, der sich immer widersetzt hat.
Was bedeuten ihm, der sich um den Look anderer Leute kümmert, Äußerlichkeiten? »Sicherlich sagt das Aussehen etwas aus, hat eine bestimmte Botschaft«, meint Johnsen. »Man sollte dennoch versuchen, die Menschen ausschließlich nach ihrem Charakter zu beurteilen.« Kevin Derwahl trägt zurzeit nur noch sechs sichtbare Piercings im Gesicht, symmetrisch angeordnet – auch sein Äußeres kommt langsam zur Ruhe.
Foto: Ute Bernhardt