Kristof Mittelstädt ist das Gesicht des Aachener Hip-Hop. Von einer Szene möchte er trotzdem nicht sprechen. Unterwegs zwischen versifften Mikrofonen und Turnhallen.
VON LUKAS MEYER ZU ALTENSCHILDESCHE
»0-2-4-1! Aachen ist die schönste Stadt der Welt AU HUUUR!« brüllt er ins Mikrofon. Seine Halsschlagader schwillt an. In Momenten wie diesem ist Kristof in seinem Element. Die Leute, die sich zum Anlass der Aktion »Macht mal Lärm in dieser Stadt« auf dem Aachener Marktplatz eingefunden haben, um für den Erhalt des freien Aachener Clubbetriebs zu demonstrieren, grölen lauthals mit, recken den Klenkes in den Himmel. Dann rappt Kristof und hält das Mikrofon, als wolle er es erwürgen. Die Ärmel seiner Trainingsjacke sind hochgekrempelt – auf einem Unterarm steht tätowiert »Die Gedanken sind frei!«, auf dem anderen „dreistunddreckig“.
Kristof Mittelstädt ist Initiator der Aktion »Macht mal Lärm in dieser Stadt« und nach eigener Aussage ein »Öcher Original«. In der Wohnung am inneren Ring, die er sich mit seiner Freundin Melina teilt, hängen Poster und Sticker seiner Veranstaltungen wie Trophäen an der Wand. Neben seinem lokalpolitischen Engagement für den freien Kulturbetrieb bietet der Schreinerlehrling auch Rap-Workshops für Jugendliche an und ist als Rapper Stevenhill (abgeleitet vom Aachener Wohnviertel Steppenberg) seit über zehn Jahren in Sachen Hip-Hop aktiv. Stevenhill & der Alte heißt sein neuestes Projekt, welches er zusammen mit seinem Vater aufzieht und wofür er bereits ein Album angekündigt hat. In Aachen dürfte es wohl kaum jemanden geben, der mehr Zeit damit verbracht hat in versiffte Mikrofone auf den lokalen Jams zu rappen.
»Was einst Hip-Hop anstatt Gewalt war, ist heute eher Hip-Hop anstatt Alltag!«
Aber gibt es in Aachen überhaupt eine Hip-Hop Szene, vergleichbar mit dem großen Vorbild Amerika? In den 70ern gründete der heute als Wegbereiter für die Hip-Hop Kultur geltende DJ Afrika Bambaataa die Zulu Nation, mit der Philosophie, negative Energie durch kreative Ausdrucksformen in positive Energie zu verwandeln. Doch die Umstände, unter denen die Hip-Hop Kultur erste Meilensteine bestritt, sind längst nicht mehr die gleichen. Mittlerweile hat sich Hip-Hop, vor allem durch Rap-Musik im Mainstream breitgemacht und spricht eine ungleich größere Masse an. Die Themen haben sich insofern geändert, dass sich heutzutage sogar ein Krawattentragender Büroangestellter mit den gerappten Texten im Radio identifizieren kann. Was früher »Hip-Hop anstatt Gewalt« war, kann heutzutage auch als »Hip-Hop anstatt Alltag«, oder »Hip-Hop anstatt Langeweile« interpretiert werden.
Auch Kristof sieht das so: »Rap ist für mich Therapie, genauso wie das Graffiti für die Writer, der Breakdance für die B-Boys und das Auflegen für die Djs.« Auf die Frage »Warum ausgerechnet Rap?« antwortet er: »Anfangs galt mein Interesse eher dem Graffiti, aber ich bemerkte relativ schnell, dass meine Kumpels da talentierter waren als ich.« Durch Künstler wie Curse, oder das Deluxe Soundsystem fühlte er sich dann derart inspiriert, dass er den Rap als seine bevorzugte Ausdrucksform entdeckte. Auf Jams wie der »Aachen Inferno« machte er nach der Jahrtausendwende erste Gehversuche, auch in einer der Königsdisziplinen des Rap, dem Freestyle. »Diese Jams verkörpern für mich den Kerngedanken des Hip-Hop!« sagt er. »Es geht dabei viel mehr darum, sich auszuprobieren, an Grenzen zu gehen und zusammen Spaß zu haben, als dem Publikum ein astreines musikalisches Erlebnis zu präsentieren. Probs erhält man schon für den Mut, überhaupt ans Mic zu gehen.«
Auch heute findet man noch solche Veranstaltungen. Beim »Rapstammtisch« zum Beispiel, einer Jam, die aktuell monatlich im Wild Rover stattfindet. Hier werden die Beats von einer Band live gespielt. Das Stammpersonal des Rapstammtischs eröffnet dann die Cypher, später können sich alle MCs in der Open Mic Session beteiligen. »Der Reiz geht davon aus, dass eben niemand die Show vorher bis ins kleinste Detail durchplant, sondern so gut wie alles gefreestylet wird. So kann man flexibel bleiben und mit spontanen Ideen richtig was reißen!«, erklärt Kristof. Durch das gemeinsame Improvisieren kann man Erfahrung am Mic sammeln, oder sich von anderen MCs inspirieren lassen. Fehler und Kritik sind dabei ebenso unverzichtbar, wie Probs und Selbstbeweihräucherung. »Außerdem muss das Publikum gerockt werden!«, fügt er hinzu, und nennt damit ein wichtiges Qualitätsmerkmal für MCs: »Gute Texte schreiben oder beim Freestylen einen guten Flow haben, ist die eine Sache. Was einen richtigen MC vom reinen Studio-Rapper unterscheidet, ist, dass ein MC aktiv das Publikum mit an Bord holt!« Dieser Anspruch reicht zurück bis in die Kinderstube des Hip-Hop, den Blockpartys in der New Yorker Bronx. Als sich Rap in seiner heutigen Ausprägung noch nicht entfaltet hatte, diente ein MC dazu, das Publikum durch verschiedene Interaktionen zum Feiern zu bringen, oder auf andere Art und Weise eine mitreißende Energie aufzubauen. »Publikum ist wichtig! Leider war es in der Vergangenheit oft so, dass sich mehr Rapper als Gäste auf den Jams rumgetrieben haben. Erfreulicherweise scheint das Interesse zu wachsen und immer mehr Leute, die eigentlich nichts mit Rap oder generell mit Hip-Hop am Hut haben, kommen vorbei.«
»Von einer Hip-Hop Szene im ursprünglichen Sinne kann keine Rede sein!«
Ebenfalls typisch für viele Blockpartys war, dass die Ausdrucksformen des Hip-Hop gemeinsam präsentiert wurden und somit enger verknüpft waren. »So etwas kommt in Aachen nur selten vor«, vergleicht Kristof. »Zwar gibt es vereinzelte Überschneidungen, aber ansonsten handelt es sich um separate Szenen, die nur hier und da miteinander in Berührung kommen. Wenn man es ganz genau nimmt, kann demnach zumindest in Aachen von einer Hip-Hop Szene im ursprünglichen Sinne keine Rede sein.«
Gemeinsame Strukturen haben die verschiedenen Szenen trotzdem. So findet man beispielsweise auch im Breakdance eine Form der Cypher. Unter Anderem an Orten wie der Sporthalle an der Schanz oder dem Carl-Sonnenschein-Haus treffen sich die B-Boys und B-Girls zum Training oder in sogenannten Open-Hours, um ihre Toprocks, Freezes, Powermoves und Footworks zu üben. Ein Beat, ein Kreis aus Tänzern, in der Mitte macht jemand seine Moves, angefeuert durch den Rest. Man wechselt sich ab oder tritt im Battle gegeneinander an, wobei der Gewinner, wenn nicht durch das Publikum, meist durch die Judges entschieden wird. Diese Art einer Jury besteht aus erfahreneren Tänzern, die die Performance der Kontrahenten bewerten. Ähnliche Formen des Battles werden auch im Rap und im Graffiti ausgetragen.
Was die Aachener Writer angeht, so macht es die rechtliche Grauzone, in der Graffiti sich befindet, schwer, an die richtigen Gesprächspartner heran zu kommen. Ihre zahlreichen Werke lassen jedoch einen Rückschluss auf die Motivation der Sprüher zu. Den eigenen Namen oder den seiner Crew möglichst stylisch, oft und sichtbar an Wände, Garagen und Züge zu sprühen, zeugt zwar von einer gewissen Risikobereitschaft was das Gesetz angeht, bedeutet aber nicht, dass die Pieces und Tags prinzipiell und ausschließlich aus krimineller Energie angebracht werden. Das Streben nach Fame wiegt dabei schwerer als die Angst vor Konsequenzen und der Empörung der Besitzer des bemalten Objektes. »Graffiti lässt sich außerdem nicht pauschal der Hip-Hop Kultur zuordnen. Viele der Schriftzüge sind vor einem völlig anderen Hintergrund entstanden, zum Beispiel, um politische Statements zu transportieren«, hakt Kristof ein. »Was nicht heißen soll, dass Hip-Hop vor politischen Themen halt macht. Dafür bin ich ja selbst das beste Beispiel«.
Die Bühne vor dem Rathaus, von der er eben noch lautstark und verschwitzt seine kritischen Texte rappte, ist jetzt frei für die nächste Band. Kristof mischt sich unter die Leute und gönnt sich ein Pils. Für heute hat er sich das verdient. Seine Pläne beschreibt er so: »Ich werde weiter Lärm in und für diese Stadt machen. Ob nun mit meiner eigenen Musik oder Aktionen wie dieser!« \
Soundtrack
Stevenhill – Paroxetin
Nic Knatterton & Johanna – Warum machen wir so weiter?
Acme MC – Überlegener Feind
Rapstammtisch – Diner (RandyL Remix)
Danger Dan – Ölsardinen Industrie
MoTrip – Wie die Zeit verrennt
Souljah – Fliegen
Glossar
Mic – kurz für Mikrofon
Jam – kurz für Jamsession
Writer – Graffiti Sprüher
B-Boy/B-Girl – Breakdance Tänzer/in
Probs – Respekt (abgeleitet von proper Respect)
Cypher – Synonym für Jamsession
MC – Master of Ceremony
Open Mic – Offenes Mikrofon, Leute aus dem Publikum kommen in die Cypher
Flow – Rhytmik des Raps
Open Hour – Clubabend zum Tanzen, Üben und gegenseitigen Kennenlernen
Toprocks, Freezes, Powermoves, Footworks – Tanzschritte im Breakdance
Piece – aufwändiges Graffiti
Tag – einfacher Schriftzug
Fame – Anerkennung in der Szene