Laufbahn

»Staubsauger« rund um TH und FH

Dieter Begaß, Fachbereichsleiter Wirtschaftsförderung/Europäische Angelegenheiten bei der Stadt Aachen, spricht mit NEO über Fachkräftemangel und die Entwicklung hin zum »Arbeitnehmermarkt«.

INTERVIEW: MARCUS ERBERICH

Die Fähigkeit einer Region, qualifizierte Beschäftigte anzuziehen, gilt als wesentliche Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung. Was bedeutet diese These für die Stadt und Region Aachen aktuell?

Bedingt durch die demographische Entwicklung schrumpft die Anzahl der Fachkräfte in den nächsten Jahren deutlich. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, sind besondere Anstrengungen der Unternehmen, gerade aber auch von Stadt und Region erforderlich. Dazu müssen wir harte wie weiche Standortfaktoren so ausrichten, dass neue Fachkräfte für den Wirtschaftsstandort Aachen gewonnen, gleichzeitig aber auch die vorhandenen gehalten werden. So begrüßen wir etwa neue Fach- und Führungskräfte mit unserem jüngst geschaffenen Angebot des Newcomer-Service (www.aachen.de/newcomerservice), der die ersten Schritte in das Berufsleben, aber auch das soziale Ankommen in Aachen etwa durch Begegnungsmöglichkeiten im Rahmen der sogenannten Newcomer Fridays bzw. Newcomer Days erleichtert. Der Aachener Familienservice der städtischen Wirtschaftsförderung berät und unterstützt in Fragen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, während das regionale Dienstleistungsportal karriere.ac dabei hilft, die passende Stelle für sich oder den Lebenspartner zu finden. Und natürlich tun das reichhaltige Kultur- und Freizeitangebot sowie das einzigartige Flair Aachens ein Übriges, wenn gleich es gilt, dieses Angebot noch fokussierter gerade an die auswärtigen Fachkräfte heranzutransportieren, die wir für Aachen erst noch gewinnen wollen.

Welche Maßnahmen gibt es von Seiten der Stadt, um qualifizierte Hochschulabsolventen – insbesondere aus technischen Studiengängen – für den Standort Aachen zu begeistern?

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Dieter M. Begaß leitet den Fachbereich Wirtschaftsförderung / Europäische Angelegenheiten bei der Stadt Aachen. Foto: Stadt Aachen

Diejenigen, die hier studiert haben, haben in aller Regel Aachen kennen-, schätzen und lieben gelernt. Umfragen unter Studenten haben ergeben, dass die weichen Standortfaktoren weitestgehend stimmig sind. Qualifizierte Absolventen unterliegen aber leider noch zu oft dem Lockruf von Unternehmen etwa aus dem süddeutschen Raum. Da spielen dann das Renommee und auch die attraktiven Gehälter eine entscheidende Rolle. Bei den auf den ersten Blick lukrativen Verdienstmöglichkeiten wird aber oftmals vergessen, die zum Teil deutlich höheren Lebenshaltungskosten im Vergleich zu Aachen gegen zu rechnen. Der Bekanntheitsgrad der regionalen Unternehmen bei Aachener Absolventen ist allerdings unbestritten ausbaufähig. Auch das belegen Umfragen. Da müssen wir gemeinsam mit den Unternehmen auch mehr und dauerhaftere Kennenlern- und Bindungsgelegenheiten schaffen, als die einmal jährlich stattfindende Nacht der Unternehmen. Die mittlerweile weit über die Region Aachen hinausgehende Strahlkraft dieser Nacht – mehr als 1.800 Besucher – zeigt, dass an derartigen Angeboten ein besonderes Interesse besteht. Auch da setzen wir an, etwa durch sogenannte Job-Expeditionen und Job-Shadowing in Unternehmen oder jetzt auch die Überlegung, die Türen von Unternehmen zu öffnen, damit sich Jugendliche, also die Fachkräfte von morgen, ein konkretes Bild von den Berufen und Betrieben machen können. Gerade im MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, d. Red.) werden wir das noch ausweiten und Schüler und Schülerinnen durch die Etablierung eines sogenannten zdi-Zentrums unmittelbar mit Unternehmen zum Beispiel durch Praktika, Labortage etc. in Berührung bringen. Da andere Städte und Regionen aber bereits ihre »Staubsauger« rund um TH und FH aufstellen, um Absolventen abzuwerben, müssen wir ebenfalls überlegen, wie sich die Region Aachen an anderen Hochschulstandorten bemerkbar macht

Wie bewerten Sie es, wenn Firmen vom »Great Place to Work«-Intitut als »Deutschlands beste Arbeitgeber« ausgezeichnet werden, dessen Bewertung sich hauptsächlich auf weiche Standortfaktoren stützt („Aufenthaltsqualität“, „Work-Life-Balance“, „Arbeitsumfeld“, „Unternehmenskultur“ etc.)?

Wir sind auf dem Weg zu einem sog. »Arbeitnehmermarkt«. Schon heute können Bewerber in verschiedenen Branchen zwischen einer Mehrzahl offener Stellen wählen. Das nimmt zu. Und zunehmend werden daher auch weiche Standortfaktoren Entscheidungskriterien bei der Stellenauswahl. Gerade in einer ständig hektischer werdenden Arbeitswelt steigt der Bedarf nach Ausgleich durch interessante Kultur- und Freizeitangebote, durch ein differenziertes Wohnungsangebot, welches unterschiedlichen Geschmäckern nach Wohlfühlen gerecht wird, oder auch durch ein passgenaues Kinderbetreuungsangebot. »Great Place to Work« ist damit am Puls der Zeit unterwegs und auch wir müssen das bei unseren Dienstleistungen berücksichtigen.

Berät der Fachbereich Wirtschaftsförderung Unternehmen und Gründer auch bezüglich solcher, vermeintlich weicher Faktoren?

Das Team der Wirtschaftsförderung ist bei jedem Besuch in den Unternehmen Aachens darauf vorbereitet, den Inhabern und Geschäftsführungen individuelle, auf die jeweiligen Belange abgestimmte Beratungsgespräche anzubieten und Lösungen für eventuelle Probleme aufzuzeigen. Selbstverständlich werden wir bei diesen Besuchen auch oft auf solche Faktoren angesprochen, bzw. werden von den Unternehmern in diesen Belangen Beratungen gewünscht. Hier können wir jedoch nicht nur allgemeine Hilfestellungen anbieten, sondern mit unseren eigenen Dienstleistungen aus dem Fachbereich ganz konkrete Unterstützung leisten. Den Newcomerservice, den AFS und weitere Angebote hatte ich bereits genannt. Zur Zeit zeigt sich sehr deutlich, dass bei vielen Arbeitgebern insbesondere das Thema Kinderbetreuung und die von uns in diesem Themenfeld vorgehaltenen Beratungsleistungen gefragt sind. Hier geht es beispielsweise um Themen wie die Einrichtung von BetriebsKitas, LENA-Gruppen oder der Durchführung von Kinderferienspielen.

Projekte wie der »Aachener Familienservice«, der Ihrem Fachbereich angehört, zeigen, dass qualifizierte Arbeitnehmer in Zeiten des hohen Fachkräfte-Bedarfs höhere Ansprüche an ihren Arbeitgeber stellen können. Hat diesbezüglich ein Umdenken bei Arbeitnehmern stattgefunden?

Wie  bereits ausgeführt, sind qualifizierte Arbeitnehmer zunehmend in der  komfortablen Situation, aus vielen Stellenangeboten das für sie passendste zu wählen. Neben dieser Tatsache stellen wir aber im wachsenden Maße auch ein Umdenken auf Arbeitgeberseite fest. Unternehmen sind  in einen viel stärkeren Wettbewerb untereinander eingestiegen, um im Vergleich mit anderen Unternehmen einen Vorteil um die Fachkräfte zu gewinnen. Der Aachener Familienservice, der auf ausdrücklichen Wunsch des Oberbürgermeisters weiterentwickelt wurde, zeigt dieses Umdenken besonders gut, wie ich finde. Die Unternehmen, die sich hier engagieren und Mitglied werden, werden dies in dem Bewusstsein, Alleinstellungsmerkmale dadurch zu schaffen, dass sie ihren Mitarbeitern eine deutlich vereinfachte Vereinbarung von Familie und Beruf bieten.

Das Bethlehem Gesundheitszentrum in Stolberg schreibt auf seiner Webseite, dass es wegen seiner Auszeichnung »Deutschlands bester Arbeitgeber im Gesundheitsbereich« – Platz fünf bundesweit, Platz eins in NRW – keine Probleme mit Fachkräftemangel habe, während in anderen Häusern „händeringend nach Fachkräften gesucht“ werde. Sind also weiche Standortfaktoren ein messbarer Wettbewerbsvorteil?

Gerade die Gesundheits- und Pflegebranche hat derzeit mit einem negativen Image zu kämpfen, was die Versorgung mit Fachkräften angeht. Familienunfreundliche Arbeitszeiten und niedrige Entlohnungen  sind nur Beispiele, mit dem Institutionen aus der Branche umgehen müssen. Umso wichtiger ist es, sich gerade in diesem Bereich von der allgemeinen Masse abzuheben, seine Alleinstellungsmerkmale und Vorzüge darzustellen und ein eigenes Profil zu schaffen. Das Bethlehem Zentrum bestätigt diese These, wenn es davon spricht, dass es wegen seiner ausgezeichneten »weichen« Alleinstellungsmerkmale nicht unter dem Fachkräftemangel leide.

Gibt es denn in Aachen Bereiche, in denen akuter Fachkräftemangel besteht? Oder besteht »nur« ein hoher Bedarf?

Dem Kammerbezirk Aachen werden nach Berechnungen von IT NRW bis zum Jahr 2030 insgesamt 76.000 Erwerbspersonen weniger zur Verfügung stehen, wobei insbesondere der Anteil der Erwerbspersonen bis 49 Jahre dramatisch zurückgehen wird. Schon im Februar 2011 konnten nach dem Institut der Deutschen Wirtschaft in Deutschland 117.000 Jobs für Fachkräfte aus den sogenannten »MINT-Fächern« nicht besetzt werden. Schon jetzt zeichnet sich deutlich ein Fachkräftemangel in der Pflege, in der Logistik und im Handwerk ab. Zwar ist in anderen Branchen die Fachkräftekrise noch nicht derart virulent; das Problem wird sich aber auch auf diese Bereiche ausweiten. Mein Fazit an dieser Stelle: Wer als Arbeitnehmer gut aus- und weitergebildet ist, wird künftig nahezu keine Probleme haben, zwischen verschiedenen Stellenangeboten zu wählen. Die Unternehmen müssen sich ernsthaft Gedanken machen, wie sie künftig Personal gewinnen und binden möchten. Hierbei werden unübliche Wege gerade unter Einbezug weicher Faktoren entscheidend sein. Wir als Wirtschaftsförderung werden den Unternehmen auch weiterhin als Servicepartner zur Seite stehen und ihnen mit einem umfassenden Unterstützungsangebot bei der Personalrekrutierung, der Qualifizierung und Weiterbildung sowie den weichen Standortfaktoren behilflich sein. \