S. ist 25 Jahre alt, ausgesprochen smart und sie kommt aus Indien. In London hat sie einen Master in Entwicklungsökonomie gemacht – zu Hause wartet auf sie womöglich die Hochzeit mit einem fremden Mann.
INTERVIEW: MARCUS ERBERICH
Was bedeutet die Ehe für dich?
Eine lebenslange Bindung.
Wie gehen die Menschen in deiner Heimat mit der Ehe um?
Traditionell organisieren die Eltern die Hochzeit, sie finden einen geeigneten Partner für ihre Kinder. Die Familien treffen sich zum Tee oder zum Kaffee, da sind auch das Mädchen und der Junge dabei und sie können miteinander reden und sich kennen lernen. Und wenn beide Familien zufrieden sind, dann kann die Hochzeit stattfinden. Die Art und Weise, wie mit der Ehe umgegangen wird, variiert von Familie zu Familie, von einer Religion zur anderen und sogar von Kaste zu Kaste. Manche Eltern suchen Partner für ihre Kinder, andere sind offen dafür, dass die Kinder selbst ihre Partner aussuchen dürfen. Aber geheiratet wird nur, wenn die Eltern es genehmigen.
Wie ist es in deiner Familie?
Meine Eltern scheinen es zu dulden, wenn ich mir selbst einen passenden Partner suche, obwohl sie tief im Inneren sehr traditionell sind und es als ihre Pflicht sehen, einen Partner für mich zu finden. Sie davon zu überzeugen, dass ich einen Mann treffen will, den ich mag, wird für mich kein einfacher Weg sein. Aber ich glaube, dass es möglich ist.
Würden deine Eltern dich aus Zwang verheiraten?
Nein, meine Eltern würden mich nie zu einer Heirat zwingen. Sie mögen hartnäckig sein, aber letztlich wird es meine Wahl sein. Aber in Familien, in denen Kinder nach der Wahl ihrer Eltern verheiratet werden, haben die Kinder keine Chance, auf die Wahl ihrer Eltern Einfluss zu nehmen. Die Kinder können höchstens noch ihre Vorlieben äußern, aber das letzte Wort haben die Eltern. Allerdings ist das in Mittelstandsfamilien heute selten. Es endet dann in der Regel so, dass die Kinder legal und in einer kleinen Zeremonie heiraten – auch ohne die Zustimmung der Eltern.
Freust du dich auf deine eigene Hochzeit?
Puh, schwierige Frage (lacht). Ja, eigentlich freue ich mich auf meine Hochzeit, aber gleichzeitig gibt es so vieles, das mir Sorgen macht. Ich treffe mich aktuell mit einem Mann, der nur zehn Monate jünger ist als ich. Meine Familie könnte das als Grund sehen, dass ich ihn nicht heiraten darf. Mein Vater ist zwar ein aufgeschlossener Mann, aber er denkt auch, dass ich seine Wahl, wen ich heiraten soll, akzeptieren sollte. Also wird es hart, ihn zu überzeugen. Und er weiss, dass ich mich niemals gegen seinen Willen aussprechen oder dagegen handeln würde. Also weiss ich nicht ganz, ob ich mich auf den D-Day freuen soll, oder doch lieber nicht.
Was erwartest du von deinem zukünftigen Ehemann? Was sind deine Ängste?
Wenn ich den Mann heirate, den ich aktuell treffe, dann sind meine Ängste begrenzt, da ich ihn sehr gut kenne und umgekehrt. Wenn ich einen Mann nach der Wahl meines Vaters heirate, habe ich eine ganze Menge Ängste: Wird er erlauben, dass ich trinke und rauche? Darf ich Kleider tragen, wenn wir ausgehen? Werde ich arbeiten dürfen? Werde ich auch mal mit meinen Freunden ausgehen dürfen? Wird seine Familie mich wie eine Tochter behandeln? Wird er gerne verreisen? Das sind alles kleine Dinge, aber eine Person nicht zu kennen und dann eine Hochzeit zu planen – das wäre sehr beängstigend. Mit meinen Erwartungen ist es dasselbe. Ich erwarte geliebt zu werden, und dass er auf mich aufpasst. Ich erwarte Leidenschaft und eine gute Verbindung zwischen mir und meinem Partner.
Ist deine Angst groß, enttäuscht zu werden?
Scheiße, Ja! Ich bin verdammt verängstigt, dass ich von meinem zukünftigen Ehemann enttäuscht sein könnte – sei er meine Wahl oder die meines Vaters. Das Ding in Indien ist: Du heiratest nicht nur einen Mann, du heiratest seine gesamte Familie. Das bedeutet: Auch, wenn ich den Mann heirate, den ich im Moment treffe, könnte seine Familie eine harte Nuss sein. Sie könnte uns das Leben zur Hölle machen. Und in indischen Ehen ist Scheidung keine Option, zumindest nicht in meiner Familie. Also ja: Ich bin sehr ängstlich, wenn ich daran denke, wie es werden könnte.
Es gibt Frauen, die sich aus Angst vor der Zwangsehe vor ihren Familien verstecken.
Tja, wo sollte ich mich verstecken? Ich liebe meine Familie und ich weiss, dass sie sich nur das Beste für mich wünscht. Ihr Verhalten mag manchen unangemessen erscheinen, aber sie würden mich niemals zu etwas zwingen, das ich absolut nicht will. So hart es auch werden wird, meinen Vater von meinem Freund zu überzeugen, werden sie sich am Ende doch mit meiner Wahl zufrieden geben müssen. Zumindest, wenn ich unnachgiebig bleibe – und ich hoffe nicht, dass es so weit überhaupt kommen wird. Ich persönlich sehe es nicht als Lösung an, mich vor denen zu verstecken, die ich liebe. Mein Vater hat immer gesagt, es gebe zwei Optionen: Entweder ihn überzeugen, dass meine Wahl gut ist, oder mich davon überzeugen lassen, dass sie es nicht ist.
Du hast in London studiert und kennst die westliche Kultur. Würdest du eine freie Partnerwahl nicht bevorzugen?
Ich glaube, ich bin zu einer freien Partnerwahl berechtigt, unabhängig davon, dass ich in London gelebt habe. Aber ich denke auch, dass es Leute aus meiner Generation sind, die das verstehen. Für die Generation meiner Eltern ist freie Partnerwahl ein ausländisches Konzept. Meine Mutter und mein Vater haben sich am Tag ihrer Hochzeit zum ersten Mal gesehen. Sie wurden mit dieser Einstellung geboren und sie sind damit aufgewachsen. Aber sie waren immerhin liberal genug, um mich in London studieren zu lassen. Also glaube ich, dass sie meine Wahl schon akzeptieren werden. Ich glaube, dass es nicht falsch ist, selbst zu entscheiden, mit wem ich mein Leben verbringen möchte. Aber ich glaube auch nicht, dass es falsch ist, dass meine Eltern in dieser Entscheidung ein Wörtchen mitreden wollen. Es gibt eine große Lücke zwischen den Generationen und wir müssen Wege finden, sie zu überbrücken. Auch wenn ich zugeben muss, dass das manchmal anstrengend und frustrierend ist.
Verglichen mit deinen Freunden in Westeuropa: Was sind die Unterschiede zwischen dir und ihnen, was Liebe, Beziehungen und sexuelle Aufklärung angeht?
Für mich ist der einzige Unterschied zwischen meinen Freunden hier und zu Hause, dass hier alles sehr offen zugeht. Zu Hause passiert alles hinter Vorhängen. In Westeuropa ist das Konzept des Datings so simpel wie das Atmen: Man trifft sich, und wenn man sich mag, trifft man sich wieder. Und wenn nicht, dann sucht man eben weiter. Es ist zwar ähnlich in Indien, aber die Leute haben nicht die Freiheit, offen damit umzugehen. Du kannst deinen Eltern nicht sagen, dass du zu einem Date gehst. Sie würden die Person treffen wollen. Aber es gibt auch Familien in Indien, die sehr offen damit umgehen. Sie laden die Mädchen oder Jungen dann zu sich nach Hause zum Essen ein, oder zu Festen in ihrem Haus. In meinem Fall ist das leider nicht so. Was die sexuelle Erziehung angeht, glaube ich, dass sowohl meine Freunde hier als auch die in Indien gut vorbereitet sind. Kondome oder andere Verhütungsmittel zu benutzen, um sicher zu sein, ist etwas, das sie alle kennen. \
(Erstmals erschienen in Klenkes NEO 5: LIEBE)