Der Transhumanismus beschäftigt sich mit den Möglichkeiten, wie moderne Technik den Menschen über seine natürlichen Grenzen hinaus optimieren kann. Die Ideen reichen vom digitalen Gedächtnis bis zum ewigen Leben. Mensch und Maschine verschmelzen zum Cyborg. Vielleicht.
VON MARCUS ERBERICH
»I know Kung Fu« haucht Neo nüchtern. Gerade ist er innerhalb weniger Sekunden zur unbesiegbaren Kampfmaschine geworden. Der dazu benötigte Datensatz ist von einem Computer aus direkt in sein Gehirn transferiert worden, übertragen über ein einziges Kabel, das während des Downloads in dem dafür vorgesehenen Steckplatz in seinem Nacken eingestöpselt war. Das ist eine Szene aus dem Hollywood-Dystopie-Film »The Matrix« aus dem Jahr 1999 – Science-Fiction.
Bei den olympischen Sommerspielen in London 2012 läuft Oscar Pistorius alias »Blade-Runner« (aktuell unter Verdacht seine Lebensgefährtin erschossen zu haben) auf zwei Hightech-Karbon-Unterschenkel-Prothesen bis ins Halbfinale im 400-Meter-Sprint und löst damit die Debatte aus, ob er durch seine künstlichen Beine Vorteile gegenüber den »normalen« Sprintern gehabt habe. Spitzensportler sind heute mittels chemischer Substanzen dazu in der Lage, Leistungen zu bringen, die unbehandelte Sportler nicht mal im Ansatz bringen könnten. Es gibt Arznei gegen psychische Verhaltensstörungen und Nervenschäden, Herzschrittmacher verlängern Leben, die unter natürlichen Umständen früher enden würden. Längst ist es der Wissenschaft gelungen, Stammzellen identisch zu reproduzieren. In Schottland wurde das Klon-Schaf Dolly »hergestellt«, als erstes Reagenzglas-Säugetier überhaupt lebte es sechs Jahre lang. Das war 1996 – vor 17 Jahren!
POSTHUMANER ZUSTAND
Aus alldem entspinnt sich die Theorie, dass gegenwärtige und zukünftige Technologie den Menschen verbessern kann; die Möglichkeit der Optimierung über seine natürlichen Grenzen hinweg trägt den Namen »Transhumanismus« und ist längst mehr als bloße Spinnerei von Technik-Geeks in Karo-Hemden. Der englische Philosoph und Futurist Max More definiert Transhumanismus als »eine Kategorie von Anschauungen, die uns in Richtung eines posthumanen Zustands führen.« Das Ziel: Irgendetwas zwischen biomorphologischer Freiheit und dem ewigen Leben. Der Mensch der Zukunft, ein Cyborg?
Auf der schweizerischen Webseite »transhumanismus.net« ist die Rede von vier Kerngebieten des Transhumanismus, an erster Stelle steht die Lebensverlängerung: »Wir haben im Labor bereits massive Durchbrüche in der Lebensverlängerung mit Modellorganismen erreicht. Dass dies irgendwann auch für den Menschen möglich sein wird, ist immer unbestrittener«, heißt es in der Erklärung. Ein Forscher namens Dr. Aubrey de Grey habe demnach ein Programm entwickelt, wie dem Alterungsprozess »dauerhaft Einhalt« geboten werden könne. Zweiter Themenbereich des Transhumanismus ist die »Kryonik«. Dieser liegt die Idee zugrunde, unheilbar kranke Menschen bei minus 196 Grad Celsius einzufrieren, um sie in der Zukunft wieder aufzutauen und mit fortschrittlichen Behandlungsmethoden doch noch von ihrem Leiden zu kurieren.
Unter Anwendungsbereich drei, der »Human Enhancement Technologie« (HET), werden »technische Anwendungen verstanden, welche die natürlichen Fähigkeiten eines Menschen temporär oder permanent verbessern oder erweitern sollen.« Darunter solle weniger das Tragen von Brillen oder der Gebrauch von Herzschrittmachern verstanden werden, als vielmehr »der Erwerb gänzlich neuer, nicht-menschlicher Fähigkeiten, wie die Möglichkeit, mit Hilfe (ebenfalls noch hypothetischer) künstlicher Blutkörperchen (Respirozyten) vier Stunden lang ohne zu atmen unter Wasser überleben zu können.«
Zuletzt wird noch das »Uploading« als Thema des Transhumanismus genannt. Damit ist der Transfer des menschlichen Bewusstseins samt Erinnerungen und Emotionen auf einen externen, sehr leistungsfähigen Computer gemeint. Mal vorausgesetzt, dieser Prozess ließe sich auch umkehren, man könnte also auch Daten in sein Gehirn downloaden, dann befinden wir uns wieder in der Matrix: I know Kung-Fu.
Über die politische Bedeutung der Piraten-Partei lässt sich zwar streiten, aber es ist trotzdem bemerkenswert, dass sie eine Arbeitsgemeinschaft Transhumanismus besitzt. Auf der Internetseite heißt es, man wolle »das Leben aller Menschen angenehmer, schöner und gehaltvoller gestalten.« Im Gegensatz zu Epikur schließe man bei den Piraten neben geistigen Genüssen auch körperliche und emotionale mit ein: »Guter Wein, würziger Blauschimmelkäse und genussvoller Sex sind für uns ebenso wichtig wie die Entwicklung der Quantengravitationstheorie und die Erforschung der Galaxis«, so die Piraten weiter.
HERZKLAPPEN AUS DEM BIOREAKTOR
Aber was ist tatsächlich heute schon machbar? Prof. Dr. Thomas Schmitz-Rode, Vorsitzender des Instituts für Angewandte Medizintechnik an der RWTH Aachen, spricht von »Tissue Engineering«, einem Forschungsprojekt, das in den nächsten Jahren experimentell zum Einsatz kommen wird: Professor Stefan Jockenhöfel und sein Team erforschen ein Verfahren, mit dem Fehler am menschlichen Herzen korrigiert werden können. Dazu werden dem Patienten – sehr vereinfacht dargestellt – Herz- und Blutzellen entnommen und im Bioreaktor kultiviert. Zusammen mit einer speziell entwickelten Textil-Struktur, die sich im Körper selber abbaut, kann so ein »Flicken« für die defekte Stelle im Herzen produziert werden. Herzklappen und Gefäßprothesen werden aus körpereigenen Zellen hergestellt.
Das Aachener Institut hat außerdem ein Gerät entwickelt, das bei Rettungseinsätzen der künstlichen Beatmung von Unfallopfern dienen soll. Es heißt »HEROS – Hochintegriertes Extrakorporales Rettungs-Oxygenator-System«, ist transportabel und unterstützt oder ersetzt die natürliche Lungen-Funktion durch ein rotierendes Bündel von Membranhohlfasern. Ein weiteres Forschungsthema im Institut heißt »Roboter assistierte Rehabilitation«, ein im Institut entwickeltes Kunstherz hat in einem Tierversuch die gesamte Kreislauffunktion für achteinhalb Stunden übernommen.
Neurowissenschaftler, Ärzte, Informatiker, Physiker, Mathematiker und Computerspezialisten aus 23 Ländern forschen zudem derzeit im Rahmen des »Human Brain Projects«. Es soll das gesamte Wissen über das menschliche Gehirn zusammen getragen werden, um es mittels computerbasierten Modellen und Simulationen nachzubilden. Beteiligt ist auch das Forschungszentrum Jülich; Die Ergebnisse sollen in der Zukunft der Medizin und Computerwissenschaft zu Gute kommen. Die EU-Kommission unterstützt das Projekt mit etwa 1,2 Milliarden Euro.
Der Mensch der Zukunft wird zwar kein Cyborg sein. Aber er wird zunehmend abhängiger von Maschinen werden – zum Teil auch innerhalb des eigenen Körpers. Dieser Prozess verläuft schleichend, niemand würde Personen mit Herzschrittmachern oder ähnlichen lebensverlängernden Applikationen als Roboter bezeichnen. Die Technik ist schon heute ein selbstverständlicher Bestandteil des Menschen. Widerstand ist zwecklos. \
Info zum Foto:
Der australische Performance-Künstler Stelarc thematisiert in seinen Werken das Konzept des Körpers und dessen Beziehung zur Technik. Die Mensch-Maschine-Relation macht dabei einen Großteil seiner Arbeiten aus. Zur Webseite von Stelarc! \
(Erstmals erschienen in NEO 9: MENSCH-MASCHINE)