Eine Frau, die ihr Leben lang nur gearbeitet hat, will raus. Es geht ihr um Veränderung und um das Leben als solches. Die Wahl ihres Zufluchtsortes hat sie – wie alles im Leben – nicht dem Zufall überlassen.
VON MARCUS ERBERICH
Hilde Spiekermann ist gut vorbereitet: Sie hat Käsekuchen besorgt und einen Kaffee aufgesetzt, den sie auch gleich serviert, obwohl ihr Besuch eine halbe Stunde früher als vereinbart in ihrer Frittenbude steht. Diese halbe Stunde muss Hilde, die Inhaberin von »Dr Fritüre« in Eschweiler, noch Dienst schieben – dann übernimmt die Kollegin. Aber schon jetzt, während sie für eine Kundin eine kleine Portion Pommes mit Majo in eine Plastik-Schale füllt und einen jungen Stammgast mit ein paar warmen Worten verabschiedet (»Hast wohl ’ne nette Freundin!«), plaudert sie munter drauflos.
Hilde, die das »Du» nicht groß anbietet, sondern einfach benutzt, hat große Pläne: Bald gibt sie ihre Frittenbude auf, für immer, nach 21 Jahren, in denen sie jeden Tag bis zu elf Stunden hier gearbeitet hat. Und wenn es so weit ist, dann will sie weg, mindestens für zwei Monate, eher länger. Und sie weiß auch schon genau, wohin die Reise geht: Nach Goa. »Das erzähle ich hier jedem, der es wissen will – oder auch nicht«, feixt sie.
Goa liegt an der mittleren Westküste Indiens, dort leben etwa 1,5 Millionen Menschen. Früher galt es als Hippie-Hochburg – in den frühen 60er-Jahren kamen die ersten Hippies dort hin, weil die Sitten lockerer waren als im restlichen Indien, und weil die Strände weiß und das Leben billig war. Nicht zuletzt deswegen wurde Goa spätestens in den 90er-Jahren auch zum Ziel von Pauschal-Urlaubern, sodass vom Erbe der »Blumenkinder« heute nicht mehr viel übrig geblieben ist. Aber davon will Hilde nichts wissen, denn für sie, so sagt sie, führt kein Weg an Goa vorbei.
»Ich will wieder zu mir selbst finden«, sagt Hilde, winkt dann aber ab, weil das so abgedroschen klinge, irgendwie nicht ehrlich. Dann verbessert sie: »Ich will dieses Gefühl von Freiheit haben. Ich weiß nicht mehr, wie man lebt.«
Neun Jahre ist es her, dass ihr Ehemann bei einem Unfall im Haushalt ums Leben kam, er war die Treppe herunter gestürzt, so schwer, dass er seinen Verletzungen erlag. Hilde hat Tränen in den Augen, als sie davon erzählt, wischt sie aber gleich wieder weg. »Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht um ihn weine«, sagt die 57-Jährige. Er sei ihre große Liebe gewesen, und das sei er immer noch und werde es immer sein. Und sie wolle, solange sie lebe, keinen Tag verbringen, an dem sie nicht um ihn weint.
Es ist nicht so, als wäre Hilde einsam. Im Gegenteil: Sie hat eine Tochter, die sie sehr liebt und umgekehrt. Sie hat auch einen lieben Freundeskreis, der immer für sie da sei, wenn sie ihn brauche, und darüber ist sie spürbar glücklich. Aber Hilde will raus – wenn auch nur vorübergehend. »Ich bin erschöpft. Ich will mal ein anderes Leben führen«, sagt sie.
Hilde ist auch nicht naiv, immerhin hat sie 21 Jahre lang einen gut gehenden Imbiss betrieben und ist mit ihrem Mann viel gereist, als der noch lebte. Afrika, Sri Lanka, Amerika, Ägypten – überall dort ist sie schon gewesen, unter anderem. Bloß glaubt Hilde nicht an Zufälle. Ihr ist erst kürzlich ein Heft in die Hände gefallen, in dem ein ganzseitiger Reisebericht über Goa steht – das Heft hat sie zum Gespräch mitgebracht. Die Seite mit dem Bericht ist vom vielen lesen schon ganz abgegriffen, auch jetzt liest sie Passagen daraus vor. Außerdem sei sie letztens erst in Köln beim Frisör gewesen. Und der sei, wie sich herausstellte, in Goa geboren und aufgewachsen. Das könne doch alles kein Zufall sein, glaubt sie. Alles deute auf Goa.
Hildegard Spiekermann, die sich selbst zwar als »Sensibelchen« bezeichnet, aber keines ist, hat keine genaue Vorstellung davon, was sie in Goa erwartet. Sie hofft, dass alles „bunt und laut“ sein wird, und dass es überall nach Gewürzen riecht. Sie hofft, dass die Menschen dort so nett sind, wie sie das aus einem Spielfilm über Indien kennt, den sie mit ihrer Tochter im Kino gesehen hat. Und sie will dort einmal Hippie sein, sozusagen auf Probe, nur um zu wissen, wie sich das anfühlt. Sie wird dort hin fliegen und sich überraschen lassen, ob sich ihre Hoffnungen erfüllen, oder ob sie enttäuscht wird. Das kann sie nicht planen – und das will sie auch gar nicht. Denn Hilde, die Frau aus der Frittenbude in Eschweiler, hat Lust auf Veränderung. Und die muss nicht immer vorbereitet sein. \
(Erstmals erschienen in Klenkes NEO 7: »LUST«)